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ein Gedankensplitter

Pacing im Alltag bei ME/CFS: Vom Werkzeug zur neuen Lebensgrundlage

Pacing ist bei ME/CFS weit mehr als eine hilfreiche Methode — es muss zu einem neuen Lebensprinzip werden.
Aktuelle Forschung und praktische Erfahrungen zeigen: Nur wer Pacing konsequent und individuell in den Alltag integriert, kann die Dynamik dieser komplexen Erkrankung besser steuern und symptomatische Verschlechterungen reduzieren.

Dabei reicht es nicht aus, vormittags aktiv zu sein und sich nachmittags zu erholen. Vielmehr muss die individuell passende Baseline als tragendes Element durchgehend berücksichtigt werden — und das unter Berücksichtigung des natürlichen Tagesrhythmus sowie der unterschiedlichen Belastungsarten.

Pacing im Kontext von ME/CFS: wissenschaftliche Basis

Das Prinzip des Pacings basiert auf der gut belegten Tatsache, dass bei ME/CFS die Energieproduktion und -nutzung im Körper gestört sind, unter anderem durch:

  • mitochondriale Dysfunktion
  • gestörte kardiovaskuläre Regulation
  • neuroimmunologische Prozesse
  • pathologisch veränderte Reaktionen auf Belastung (post-exertional malaise, PEM)

(Quellen: Institute of Medicine (IOM) Report 2015¹, Jason et al. 2009², Twisk & Maes 2009³)

Zahlreiche Studien und klinische Beobachtungen zeigen: Belastungsspitzen, selbst wenn sie subjektiv zunächst verträglich erscheinen, führen bei ME/CFS häufig zeitverzögert zu PEM — einer signifikanten, oft anhaltenden Verschlechterung des Gesundheitszustands.

Das Vermeiden solcher Belastungsspitzen durch individuelles Pacing ist derzeit eine der wirksamsten Strategien im Management von ME/CFS.

Baseline: eine dynamische Größe

Ein zentrales Element dabei ist die persönliche Baseline — das Aktivitätsniveau, das der eigene Körper ohne Überschreitung der Belastungsgrenzen bewältigen kann.

Wichtig zu verstehen:

  • Die Baseline ist dynamisch: Sie variiert mit dem Tagesrhythmus, der aktuellen Gesamtkonstitution, den Vorbelastungen und anderen Faktoren.
  • Gleich viel leisten zu jeder Tageszeit ist unrealistisch. Viele Betroffene erleben z.B. morgens oder am späten Nachmittag eine etwas höhere oder niedrigere Belastungstoleranz.
  • Ein Puffer sollte auch an guten Tagen zwingend bestehen bleiben — gerade dies stellt im Alltag oft die größte Herausforderung dar. Das "Ausschöpfen guter Phasen" führt häufig unbemerkt zu PEM.

Darüber hinaus ist die Art der Belastung entscheidend:

  • Körperliche Belastung liefert meist eine unmittelbar spürbare Rückmeldung, wann die Grenze erreicht ist.
  • Kognitive Belastung ist deutlich schwieriger einzuschätzen. Symptome wie geistige Erschöpfung, Reizempfindlichkeit oder verzögert einsetzende Kopfschmerzen treten oft erst zeitversetzt auf. Hier ist besondere Achtsamkeit und Erfahrung im Selbstmonitoring gefragt.
  • Emotionale Belastung bringt das Problem mit sich, dass sie selten plan- und steuerbar ist. Hier ist man gut beraten, wenn man einen Energiepuffer hat.

Pacing heißt nicht: vormittags leisten, nachmittags ausruhen

Ein verbreitetes Missverständnis lautet:
"Ich arbeite vormittags, dafür ruhe ich nachmittags — das ist doch Pacing."

Leider ist dieses Vorgehen bei ME/CFS riskant.
Denn:

  • Die metabolische Störung bei ME/CFS führt dazu, dass jede Belastung außerhalb der Baseline potenziell pathologische Reaktionen triggert — unabhängig davon, ob anschließend Ruhe folgt.
  • Das Einhalten der Baseline muss kontinuierlich erfolgen, nicht als Kompensation nach Belastung.
  • Gerade bei kognitiven Tätigkeiten — z.B. Arbeiten am PC, Telefonieren oder Planen — unterschätzen viele die Belastung stark.

Konsequenz:

Pacing muss zum neuen Grundprinzip des Lebens werden.
Das erfordert Struktur, Flexibilität und einen wohlwollenden Umgang mit sich selbst.

Pacing betrifft nicht nur die Betroffenen

Aus meiner eigenen Erfahrung mit ME/CFS sowie in der Arbeit mit Betroffenen in den letzten zwölf Monaten habe ich zudem beobachtet:

Auch Angehörige profitieren von einer „pacing-basierten“ Haltung im Alltag:

  • Sie verstehen besser, warum scheinbar "normale Tagesabläufe" nicht mehr umsetzbar sind.
  • Sie lernen, die Dynamik der Krankheit zu akzeptieren und die notwendige Flexibilität zu unterstützen.
  • Sie entlasten sich selbst, indem sie ihre eigenen Erwartungen an den Tagesrhythmus anpassen und mehr Achtsamkeit in gemeinsame Aktivitäten einbringen.

Natürlich ist ihre Baseline meist deutlich höher — doch auch für sie kann eine bewusste Reduktion von Überforderung, Reizflut und Dauerstress hilfreich sein.

Lernen, wie es geht: Mein Workshop Baseline & Pacing

Pacing konsequent und individuell in den Alltag zu integrieren, ist eine große Herausforderung.

Genau deshalb habe ich — als Konsequenz aus der intensiven Arbeit mit Betroffenen in den letzten zwölf Monaten und basierend auf meiner eigenen ME/CFS-Erfahrung — den Workshop Baseline & Pacing entwickelt.

Darin vermittle ich:

  • wie man die eigene Baseline ermittelt und an den Tagesrhythmus anpasst
  • wie kognitive und körperliche Belastung differenziert eingeschätzt werden kann
  • wie man "Puffer" im Alltag konkret einplant
  • wie Angehörige sinnvoll einbezogen werden können
  • wie man typische Pacing-Fallen im Alltag vermeidet

Der Workshop richtet sich an Betroffene und deren Angehörige.

👉 Hier kannst du dich über den nächsten Termin informieren.

Fazit

Pacing ist kein punktuelles Werkzeug.
Es ist ein umfassendes Lebensprinzip — und bei ME/CFS der wichtigste Baustein, um langfristig Stabilität und bestmögliche Lebensqualität zu erreichen.

Dazu gehört:

✅ kontinuierliche Beachtung der Baseline
✅ Berücksichtigung des Tagesrhythmus
✅ bewusste Planung von Pufferzeiten
✅ differenzierter Umgang mit kognitiver und körperlicher Belastung
✅ Einbeziehung des sozialen Umfelds

Pacing heißt nicht: vormittags leisten und nachmittags ruhen

— Pacing heißt durchgehend in der eigenen Baseline leben. Jeden Tag. Langfristig.

Quellen

¹ Institute of Medicine (IOM, heute NAM), 2015: Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness
² Jason, L.A. et al., 2009: A community-based study of fatigue-related impairments and exercise pacing strategies in patients with ME/CFS
³ Twisk, F.N.M. & Maes, M., 2009: A review on cognitive behavioral therapy (CBT) and graded exercise therapy (GET) in myalgic encephalomyelitis (ME) / chronic fatigue syndrome (CFS): CBT/GET is not only ineffective and not evidence-based, but also potentially harmful for many patients with ME/CFS