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ein Gedankensplitter

ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen: Besonderheiten im Umgang – Ein Leitfaden für Fachkräfte

Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatnes-Syndrom (ME/CFS) stellt bei Kindern und Jugendlichen eine besondere Herausforderung für das Versorgungssystem dar. Während die Erkrankung bei Erwachsenen zunehmend Beachtung findet, bleiben die spezifischen Bedürfnisse jüngerer Patienten bislang zu wenig beleuchtet. Fachkräfte aus Medizin, Psychologie, Schule, Sozialarbeit und Pflege stehen vor komplexen Fragen: Wie erkennen wir ME/CFS bei jungen Patienten? Wie unterscheiden wir es von anderen Erkrankungen? Und vor allem: Wie können wir Familien nachhaltig begleiten, obwohl kausale Therapieansätze bislang fehlen?

Diagnostische Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen

Die Leitlinienlage zur Diagnosestellung von ME/CFS orientiert sich international u.a. an den IOM/NAM-Kriterien (Institute of Medicine / National Academy of Medicine, 2015) und den Canadian Consensus Criteria (Carruthers et al., 2003). Beide definieren klare Leitsymptome wie:

  • Post-Exertional Malaise (PEM)
  • Neurologisch-kognitive Dysfunktionen
  • Schlafstörungen
  • Orthostatische Intoleranz
  • Immunologische Dysregulation

Gerade bei Jugendlichen gestaltet sich die Diagnostik jedoch schwieriger als bei Erwachsenen:

  • Die Eigenwahrnehmung der Jugendlichen ist oft wenig differenziert, insbesondere bezüglich kognitiver Erschöpfung ("brain fog").
  • Kognitive und emotionale Entwicklungsphasen überschneiden sich mit Krankheitsmanifestationen.
  • Viele der typischen Symptome können leicht als pubertätsbedingte Erscheinungen fehlgedeutet werden: Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Kreislaufbeschwerden, Gliederschmerzen, Vergesslichkeit, Müdigkeit, Antriebslosigkeit, morgendliches Nicht-aus-dem-Bett-Kommen.
  • Komorbiditäten wie Angststörungen, depressive Verstimmungen oder funktionelle Beschwerden erschweren die Differenzialdiagnose.
  • Die hohe Anpassungsbereitschaft Jugendlicher führt zu Überforderungsmustern, die das Bild verfälschen können.

Ergänzend berichten Fachstellen übereinstimmend, dass bislang nahezu ausschließlich Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern vorgestellt werden. Für die betroffenen Eltern entsteht häufig das sogenannte "Helikopter-Dilemma": Ohne massives Engagement können sie kaum angemessene Hilfen für ihr Kind durchsetzen; zugleich wird insbesondere mütterliches Engagement rasch psychologisiert und pathologisiert.

Deshalb empfiehlt sich für Fachkräfte ein differenziertes Vorgehen mit klarer Fokussierung auf Belastungsintoleranz, d.h. PEM als Leitsymptom.

Schule als systemischer Brennpunkt

Das Schulsystem wird für betroffene Familien häufig zum zentralen Konfliktfeld. Fachpersonen aus Schule, Schulverwaltung und Inklusion sollten sich bewusst sein:

  • ME/CFS-bedingte Leistungsfluktuationen lassen sich nicht mit "fehlender Motivation" gleichsetzen.
  • Kognitive Belastung (z.B. Prüfungssituationen, Lernstoffaufnahme) wirkt ähnlich ermüdend wie körperliche Anstrengung.
  • Klassische schulische Förderpläne mit Zielorientierung auf "Wiederaufbau von Belastbarkeit" sind bei ME/CFS kontraproduktiv.
  • Flexible, individuell tagesformabhängige Anpassungen (z.B. Home-Schooling-Elemente, digitale Lernformen, reduzierte Stoffmengen) sind entscheidend, leider in vielen Fällen jedoch nicht ausreichend, sodass das Ruhenlassen der Schulpflicht als einzige gesundheitserhaltende Maßnahme in Frage kommt.
  • Schulische Sozialkontakte werden mitunter überbewertet, während die immense Anstrengung, die der Schulbetrieb an sich bedeutet, oft unterschätzt wird. Hier gilt es, alternative soziale Kontakte und Aktivitäten im Alltag zu finden, die der psychischen Gesunderhaltung des Jugendlichen angemessener Rechnung tragen.

Psychosoziale Dynamik im Familiensystem

Erkrankte Jugendliche stehen nicht isoliert im therapeutischen Raum. Vielmehr wirken familiäre, schulische und soziale Dynamiken ineinander:

  • Elterliche Überforderung durch chronische Unplanbarkeit des Alltags.
  • Ambivalenz zwischen Förderung und Überforderung.
  • Soziale Isolation des Jugendlichen durch deutlich mehr Faktoren als nur schulischen Rückzug. Sozialkontakte aufrechtzuerhalten ist bei schwacher Reizfilterung, kognitiver Erschöpfung und geringer Energie eine kaum zu bewältigende Herausforderung.
  • Zukunftsängste in der gesamten Familie.

Fachkräfte sollten eine begleitende Elternarbeit einplanen, die sowohl psychoedukative Elemente (Verständnis für PEM, Pacing, Akzeptanzprozesse) als auch systemische Entlastungsstrategien umfasst.

Der Stellenwert von Pacing und Baseline-Arbeit

In der therapeutischen Begleitung betroffener Familien ist das Konzept des Pacings (kontinuierliche Anpassung aller Aktivitäten an die individuelle Belastbarkeit) zentral. Dabei gilt es, sowohl körperliche wie kognitive und emotionale Belastungen gleichermaßen zu berücksichtigen. Die Baseline – das individuell verträgliche Belastungsniveau – ist dynamisch und muss regelmäßig gemeinsam mit den Patienten erarbeitet und angepasst werden.

Fachpersonen können hier entscheidend zur Stabilisierung beitragen, indem sie:

  • Belastungsanalysen strukturieren helfen
  • Eltern im Erwartungsmanagement begleiten
  • schulische und therapeutische Settings pacing-kompatibel gestalten
  • Krisensituationen frühzeitig erkennen und entschärfen

Interdisziplinäre Versorgung als Schlüsselfaktor

Aufgrund der Komplexität der Erkrankung ist eine sektorenübergreifende Zusammenarbeit essenziell:

  • Medizinische Primärversorgung (Hausarzt, Kinderarzt, Neuropädiatrie, Kardiologie)
  • Schulische Inklusionsberatung und Schulleitungen
  • Schulsozialarbeit und Jugendhilfe
  • Psychosoziale Beratungsstellen
  • Pflegeberatung (Pflegegrad-Einstufung)
  • Selbsthilfegruppen

Kommunikation zwischen diesen Akteuren erfordert für ME/CFS spezifische Schulung, um Fehlinterpretationen (z.B. psychiatrische Fehldiagnosen, "Elternfehlverhalten") vorzubeugen.

Fazit für Fachkräfte

ME/CFS bei Jugendlichen fordert das interdisziplinäre Versorgungssystem auf besondere Weise heraus. Die Kombination aus neuroimmunologischen, kognitiven und psychosozialen Komponenten erfordert ein hochindividualisiertes Begleitkonzept, das Stabilisierung vor Belastungssteigerung stellt. Fachkräfte aller Disziplinen können durch fundiertes Wissen, geduldige Prozessbegleitung und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit wesentlich zur Entlastung der betroffenen Familien beitragen.

Mein Beitrag als Brückenbauerin in der Versorgung

In meiner Arbeit erlebe ich häufig, dass ich als Vermittlerin zwischen den verschiedenen Professionen wirksam werden kann. Als ehemalige Schulleiterin mit dem Schwerpunkt Inklusion und als selbst an ME/CFS erkrankte Fachperson kenne ich sowohl die inneren Logiken schulischer, behördlicher und medizinischer Strukturen als auch die individuellen Belastungen der betroffenen Familien. Diese doppelte Expertise erlaubt es mir, Brücken zwischen den Beteiligten zu bauen, Konflikte zu entschärfen und tragfähige Lösungen zu entwickeln.

Weiterführende Angebote

Zu den hier dargestellten Themen biete ich aktuell folgende Veranstaltungen an:

  • 30.06.2025: Workshop "Baseline & Pacing bei ME/CFS"
  • 13.07.2025 - 11.00 Uhr - Kostenfreier Q&A-Zoomcall "ME/CFS & Schule: Herausforderungen und Lösungen"
  • 20.07.2025 - 11.00 Uhr - Kostenfreier Q&A-Zoomcall "ME/CFS in der Familie: Krisen erkennen und begleiten"

Zu den beiden letzten Terminen können Sie sich per Mail bei mir anmelden. Kurz vor Beginn schicke ich dann den entsprechenden Zoomlink zu.

Literatur:

  • Institute of Medicine (IOM)/National Academy of Medicine (NAM). (2015). Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness.
  • Carruthers, B.M. et al. (2003). Canadian Consensus Criteria. Journal of Chronic Fatigue Syndrome.
  • Rowe, P. C. et al. (2017). Guidelines on the management of ME/CFS in adolescents. Frontiers in Pediatrics.
  • Nacul, L. et al. (2020). Pacing as a Strategy for Managing ME/CFS. Journal of Translational Medicine.
  • Geraghty, K. & Blease, C. (2016). Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome and the biopsychosocial model: a review. Journal of Health Psychology.
  • Twisk, F.N.M. & Maes, M. (2009). Review on CBT and GET in ME/CFS: ineffective and potentially harmful.Neuro Endocrinology Letters.