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ein Gedankensplitter

Wenn Aufklärung zur Ausgrenzung wird

Wenn Aufklärung zur Ausgrenzung wird

Über Deutungshoheit, Diskurse und die Gefahr sprachlicher Reinheit in der ME/CFS-Kommunikation

In der Aufklärung rund um ME/CFS spielt Sprache eine zentrale Rolle. Sie ist weit mehr als ein Werkzeug, sie ist Grenze, Eintrittskarte und Zugehörigkeitsmarker zugleich. Wer „die richtigen Begriffe“ verwendet, gilt als informiert, sensibel und respektvoll. Wer sie nicht kennt oder anders benutzt, wird schnell in die Schublade der Unwissenden gesteckt.

Dabei beginnt jedes Gespräch nicht mit Wissen, sondern mit dem Wunsch zu verstehen. Doch in vielen digitalen Räumen, die sich der Aufklärung über ME/CFS widmen, hat sich eine Kultur sprachlicher Reinheit etabliert. Begriffe werden streng korrigiert, ganze Aussagen als „falsch“ oder „unangemessen“ etikettiert. Was einst dem Schutz vor Missverständnissen diente, hat sich mancherorts zu einem Kommunikationshindernis entwickelt.

Sprache als System

Die Systemtheoretikerin Gitta Peyn beschreibt Kommunikation, in Anlehnung an Niklas Luhmann, als ein autopoietisches System, das sich selbst fortschreibt und reproduziert. Kommunikation lebt von Anschlussfähigkeit. Wenn wir aber Begriffe verwenden, die außerhalb des eigenen Systems niemand versteht, verliert sie genau das: ihre Anschlussfähigkeit.

Ein Satz wie „Bitte verwende nicht mehr das Wort ‚chronische Erschöpfung‘“ mag innerhalb der Community richtig sein, doch für Außenstehende bleibt er oft unverständlich. Warum ist diese Differenz so entscheidend? Ohne Kontext bleibt die Botschaft leer. Wir schützen zwar die eigene Bedeutung, aber wir verlieren den Kontakt zur Außenwelt.

Peyn spricht in ihrer „Kybernetik zweiter Ordnung“ von Kommunikation als Beobachtung von Beobachtung. Wir interpretieren also immer. Und genau hier liegt das Problem: Wenn eine Gruppe ihre eigene Beobachtung zum Maßstab aller macht, erstarrt sie. Sie wird selbstreferenziell und damit unempfänglich für neue Perspektiven.

Verständigung statt sprachlicher Reinheit

Gerade in einem Feld wie ME/CFS, das jahrzehntelang verkannt wurde, ist Präzision wichtig. Aber Präzision darf nicht zur Waffe werden. Aufklärung bedeutet nicht, Grenzen zu ziehen, sondern Brücken zu bauen.

In der Pädagogik spricht man von didaktischer Reduktion, der bewussten Vereinfachung, um Zugang zu ermöglichen. Vereinfachen heißt nicht, etwas falsch darzustellen, sondern andere einzuladen, mitzuverstehen. Besonders auf Social Media, wo Begriffe schnell überfordern, ist diese Balance entscheidend: präzise genug, um korrekt zu bleiben, und einfach genug, um gehört zu werden.

Wenn Aufklärung ihre Anschlussfähigkeit verliert, entsteht eine kommunikative Echokammer. Dann sprechen Betroffene zwar viel, aber nicht mehr mit, sondern übereinander. Worte werden zu Markern der Zugehörigkeit, nicht mehr zu Werkzeugen der Verständigung. Gitta Peyn nennt das treffend „semantische Erschöpfung“, Worte, die so oft korrigiert werden, dass sie ihre Wirkung verlieren.

Lernen statt Korrigieren

Aufklärung braucht Räume, in denen Unwissenheit kein Ausschlussgrund ist, sondern ein Ausgangspunkt für Lernen. Wer immer sofort korrigiert, beendet Gespräche, bevor sie beginnen. Wer stattdessen einordnet, schafft Verständnis.

Wenn wir Sprache als Brücke verstehen, nicht als Zaun, wird Kommunikation wieder das, was sie sein sollte: ein gemeinsamer Prozess des Erkennens.

Vernetzung statt Vereindeutigung

Gesellschaftliche Veränderung entsteht nicht durch sprachliche Reinheit, sondern durch Übersetzungsarbeit zwischen Betroffenen und Fachleuten, zwischen Medizin, Politik und Öffentlichkeit. Zwischen jenen, die schon verstehen, und jenen, die erst anfangen, Fragen zu stellen.

Ich bin mit vielen Patient:innengruppen im Austausch, nicht immer sind wir einer Meinung, doch wir teilen ein Ziel: Versorgung verbessern, Verständnis fördern, Strukturen verändern. Das gelingt nur, wenn wir uns zuhören.

Vernetzen wir uns – für Aufklärung, die verbindet statt trennt.
Denn Verständigung ist kein Luxus. Sie ist der Anfang von Versorgung.