
Therapie ohne Therapie: Umgang mit ME/CFS in Schule und Alltag und wie wir Kinder und Jugendliche mit ME/CFS wirklich unterstützen können
ME/CFS – Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue-Syndrom – ist eine Erkrankung, die das Gesundheits- und Bildungssystem vor große Herausforderungen stellt. Sie verändert den Alltag von Familien, zwingt Kinder und Jugendliche in eine oft unsichtbare Erschöpfung und stellt Fachpersonen vor die Frage: Wie kann man helfen, wenn klassische Therapieansätze nicht greifen?
Denn anders als bei vielen chronischen Erkrankungen gibt es bislang keine ursächliche Behandlung. Medikamente, Rehaprogramme oder Psychotherapie können die Symptome meist nicht lindern – teilweise verschlimmern sie sie sogar. Genau darin liegt die Schwierigkeit, aber auch die Chance, den Blick neu auszurichten: weg von der Idee der Heilung, hin zu einer Haltung des Verstehens und Schutzes.
Warum klassische Therapieansätze nicht greifen
Viele gängige Behandlungsstrategien orientieren sich am Prinzip „Steigerung durch Belastung“. Wer erschöpft ist, soll sich Schritt für Schritt wieder aktivieren, um Kraft aufzubauen. Doch bei ME/CFS funktioniert dieses Prinzip nicht.
Bereits geringe körperliche oder geistige Anstrengung kann eine drastische Verschlechterung auslösen – die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM). Dieses Symptom ist das Kernmerkmal der Erkrankung und zeigt, dass sich ME/CFS deutlich von psychischen oder muskulären Erschöpfungszuständen unterscheidet.
Kinder und Jugendliche, die versuchen, sich „zusammenzureißen“ oder zu funktionieren, zahlen dafür oft einen hohen Preis: Tage oder Wochen völliger Erschöpfung, Schmerzen, kognitive Ausfälle. Fachpersonen, die weiterhin auf Aktivierung oder Motivation zur Belastung setzen, riskieren damit ungewollt eine Verschlimmerung.
Was es deshalb braucht, ist ein grundlegendes Umdenken im professionellen Handeln, weg von Leistungssteigerung, hin zu kluger Anpassung und Achtsamkeit.
Management statt Heilung
Da es keine Therapie im klassischen Sinn gibt, liegt der Schlüssel im Management der vorhandenen Energie. Ziel ist es, Rückfälle zu vermeiden und die Lebensqualität zu stabilisieren.
In der Praxis bedeutet das:
Hier ist das Wissen der Fachpersonen gefragt, nicht um zu therapieren, sondern um zu begleiten, zu schützen und Verständnis zu schaffen.
Die Rolle der Schule
Die Schule ist häufig der Ort, an dem Überforderung entsteht. Schon der Weg ins Klassenzimmer kann zu viel sein, eine Tatsache, die oft missverstanden wird. Viele Kinder mit ME/CFS gelten als „schulmüde“ oder „unmotiviert“, dabei kämpfen sie schlicht mit einem Körper, der nicht mehr kann.
Lehrkräfte können hier entscheidend dazu beitragen, dass Schule kein Ort des Drucks wird, sondern ein Ort der Teilhabe bleibt, im Rahmen dessen, was möglich ist. Das bedeutet:
Wenn Fachkräfte Verständnis zeigen, entsteht Vertrauen – und dieses Vertrauen ist oft der wichtigste Heilraum, den Schule bieten kann.
Ein Paradigmenwechsel in der Haltung
ME/CFS zwingt uns, gewohnte Denkmuster loszulassen.
Es geht nicht darum, immer mehr zu tun, sondern zu erkennen, wann weniger mehr ist. Statt Heilung zu versprechen, braucht es die Bereitschaft, zuzuhören, Grenzen zu akzeptieren und Belastung zu vermeiden.
„Therapie ohne Therapie“ bedeutet also nicht Passivität – es bedeutet, Verantwortung anders zu verstehen:
Kinder und Jugendliche vor Überforderung zu schützen, ihnen Räume der Ruhe zu geben und sie in ihrer Selbstwahrnehmung ernst zu nehmen.
Das ist kein Rückschritt, sondern ein Zeichen echter Professionalität. Denn wer ME/CFS begegnet, lernt schnell: Verständnis und Anpassung sind oft die wirksamsten Formen der Unterstützung.
Weiterführende Unterstützung
An genau dieser Schnittstelle setzt mein kleines Heft (zum Selbstkostenpreis) an:
„Kommunikationshilfe: Zum Umgang mit ME/CFS in der Schule“
Es bietet praxisnahe Anleitungen, Hintergrundwissen und konkrete Formulierungen für den Schulalltag. Ziel ist es, die Kommunikation zwischen Eltern, Lehrkräften und Institutionen zu erleichtern und Brücken zu bauen, wo Missverständnisse bislang noch Gräben reißen.
Fazit
„Therapie ohne Therapie“ heißt, Fürsorge neu zu denken.
Nicht Heilung steht im Mittelpunkt, sondern Schutz, Anpassung und Anerkennung.
Fachpersonen können entscheidend dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche mit ME/CFS nicht zusätzlich unter Unverständnis und Fehlentscheidungen leiden, sondern gesehen, verstanden und gestützt werden in einer Welt, die oft viel zu laut für ihre leisen Kämpfe ist.