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ein Gedankensplitter

Ein Tag im Körper einer ME/CFS-Erkrankten

Ein Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen

Wie fühlt es sich an, mit ME/CFS zu leben?
Wie fühlt sich ein Tag an, in einem Körper, der einmal leistungsfähig war – und nun bei den einfachsten Dingen kapituliert?

ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung. Die Öffentlichkeit hört immer öfter davon, seit es im Zusammenhang mit Long Covid vermehrt auftritt. Doch was es bedeutet, mit dieser Krankheit zu leben, ist schwer vermittelbar.

Deshalb lasse ich euch für einen Moment in meinen Alltag eintauchen. In einen ganz normalen, für mich damals sogar eher gutenTag im November 2022.

Morgen

4.30 Uhr.
Ich werde wach. Nicht sanft, sondern schlagartig.
Mein ganzer Körper ist schweißgebadet, der Tinnitus kreischt ohrenbetäubend. Ich habe das Gefühl, ich breche in der Mitte durch. Jede Bewegung ist eine Qual — ich muss mich mühsam mit den Armen in eine andere Position ziehen, den Körper mit Kissen abstützen.

7.00 Uhr.
Ich bin wieder eingeschlafen. Welch ein Glück – das ist selten. Meine App zeigt 51 % Energie an. Für mich eine geradezu berauschende Zahl.
Ich werde übermütig, nutze die Zeit im Liegen, um soziale Kontakte online zu pflegen. Drei Menschen, die mich verstehen. Mehr gibt es im Moment kaum.

Doch der Preis kommt prompt:
Der "Schmerzhelm" schiebt sich über meinen Kopf, zieht an den Schläfen hinab. Mein Signal, dass die Belastung zu hoch war. Ich wechsle die Art der Aktivität, stehe auf.

Körperpflege

Der Urin ist rotbraun. Was in meinem Körper diesmal nicht passt, weiß ich nicht.

Mehr als eine Katzenwäsche liegt nicht drin. Zähneputzen nur im Sitzen — die Anstrengung dabei ist immens. Beim Anziehen denke ich: eigentlich müsste ich noch... Doch die Kraft reicht nicht.

Frühstück: Budwigcreme. Ich streue zweimal Zimt darüber — beim zweiten Mal habe ich den ersten vergessen. Auch das ist Alltag.

Plötzlich liegt eine Kapsel auf meinem Teller. Niemand außer mir ist da. Woher kommt sie?
Das Leben mit ME/CFS ist voller solcher kleiner Rätsel.

Erste Erschöpfung

Beim Lesen der Zeitung spüre ich Vibrationen im Bauch, als hätte ich mein Handy verschluckt. Ich taste nach. Nichts. Es ist in mir drin — normalerweise ein Zeichen extremer Erschöpfung am Abend. Doch es ist erst Vormittag. Habe ich schon zu viel gemacht?

Ich mische mir ein Gesundgetränk, starte die Waschmaschine, lege Holz im Ofen nach. 40 Minuten Aktivität. Mein Körper protestiert: die Ohren sausen, der Rücken schmerzt, der Helm drückt. Energie: nur noch 22 %.

Kurze Erholung

Noch eine Nachricht an eine andere Betroffene — ein "Himmelsgeschenk", denn sie versteht mich.

Dann "Wolkologie": 30 Minuten in den Himmel schauen, in Wolkenbildern versinken.
Danach immerhin 36 % Energie.

Mittag

Ein Anruf meiner Tochter tut gut. Die Papageien brauchen Futter. Ich packe es in die Wassernäpfe — und merke erst dabei: so sollte es nicht sein. Ein klares Zeichen, dass meine kognitiven Ressourcen schwinden.

Zeit zum Hinlegen.

Später schaffe ich es, duschen zu gehen — schnell, effizient. Puls: 144. Übelkeit.

Zurück ins Bett: Musik, Aminosäurendrink. Ich hadere mit der endlosen Selbstoptimierung, die dieses Leben erfordert. Nach 30 Minuten bin ich wieder "einsatzfähig".

Aktiver Nachmittag? Abwägen.

Jetzt gilt es zu planen:
"Ausruhen vom Ausruhen" hilft. Aber ich muss die wenigen verbleibenden Kräfte gut einteilen. Wahrscheinlich bleibt heute nur noch eine Aktivitätsphase.

Ein Latte Macchiato mit meinem Mann ist gesetzt — je nachdem, mit welchen Themen er kommt, vielleicht auch machbar.
Etwas Musik könnte gut tun.

Ich überlege: Gitarre und Singen gehen oft mehr an die Seele, Handpan mehr an die Kognition. Geige und Klavier sind zu anstrengend in Körperhaltung und Energieverbrauch. Auch Weben, Nähen, Haushalt fallen meist raus.

Die Kopfschmerzen sind zu stark für Gitarre und Singen — wer zieht mir nur diesen Nagel über dem Auge raus? Also vielleicht ein Kinderhörspiel von Cornelia Funke.
Ja — die Energie steigt immerhin auf 67 %. Die Kopfschmerzen bleiben.

Reizüberflutung

Ich wage mich nach unten.
Dort sitzen zwei redselige Jugendliche. Ich flüchte in die Hausarbeit — dummerweise steht heute das Papageienzimmeran. Die Tiere sind schlecht auf mich zu sprechen, weil ich sie zuletzt vernachlässigen musste. Lautstarker Protest. Für meinen Kopf zu viel.

Das Kind beginnt Klavier zu spielen. Eigentlich liebe ich das. Doch jetzt muss ich mich innerlich abschotten und rette mich auf die Terrasse. Ich sehe den Hunden und den Mücken zu — das geht.

Letzte Kraftreserven

Irgendwann greife ich doch zur Gitarre.
Mein Mann kommt dazu, bringt Latte Macchiato — und mit ihm die Übelkeit.

Wir sprechen über seine Arbeit. Ich genieße das, höre zu, gebe Rat. Aber irgendwann kippe ich regelrecht weg und flüchte zurück nach oben.

Abend und Nacht

Unten höre ich Vater und Sohn, sie sprechen über die Lebenspläne des Juniors. Das muss heute für mein familiäres Glücksgefühl reichen.

Die Ohren sausen, der Schmerzhelm sitzt fest. Die Rouladenklammer um den Brustkorb zieht sich zu.

Doch immerhin: das krasse Grippegefühl mit Schweißausbrüchen, Muskelschmerzen und nur Beine oben auf der Sofalehne ertragbar — das bleibt heute aus. An den beiden letzten Tagen war das anders.

Abendessen: immer die härteste Herausforderung des Tages. Ich schaffe knapp 10 Minuten am Tisch — sitzen, essen, Gespräche: Hardcore.

Dann flach aufs Sofa.
Ganz seichte Krimis, bloß nichts merken müssen. Kopfhörer auf, damit mich niemand aus Versehen anspricht. Ich liege plattflach (auch Liegen kennt Abstufungen).

Plötzlich reden sie im Krimi von zwei Toten — seltsam. Ah, da ist er, der Laster mit der "Vollgrippe".

Heute Gelenk- statt Muskelschmerzen: massiv in Schulter und Ellbogen rechts. Alles andere: unangenehmes Hintergrundschmerzrauschen. Muskeln zucken am Knie im Takt, Übelkeit gratis dazu.

Ich stütze den Körper überall mit Kissen, um es ertragen zu können.

Jetzt ist die Tageszeit, die echt zu langsam vergeht.

Eine WhatsApp vom Lieblingsmenschen? Heute nicht mehr. Ich bin zu matt für Empathie. Für Humor erst recht.

Es ist kurz nach 21 Uhr.
Es geht etwas besser. Die Schmerzen bleiben. Das rechte Auge zuckt innen.

Und doch: dieser Tag war deutlich besser als die letzten.

Das Krasse ist: So sind seit Monaten alle Tage.
Ein Kraftakt in jeder Hinsicht.

Wie lange kann ich das noch durchhalten?

Energie beim Schlafengehen: 76 %. Was soll ich denn jetzt damit?

2.26 Uhr.
Ich bin wach. Schmerzen im Eierstock, schlecht eingeschlafen.
Jetzt Darmgerumpel, abgrundtiefe Übelkeit — weit über Standard hinaus.

Ich sitze eine Stunde im Bett.

Dann doch noch Schlaf bis 6.20 Uhr. Symptomanalyse spare ich mir. Ich will das alles gar nicht wissen.

Der Wahnsinn beginnt heute aufs Neue.

Warum ich das aufschreibe?

Ich wünsche mir von meinem Gegenüber drei Dinge:
1. Verständnis, dass das Leben mit ME/CFS  unfassbar schwierig ist.
2. Das Anerkennen, dass wir uns dafür unfassbar wacker schlage.n
3. Dass du einfach nur für die Betroffenen da bist.

Ein Tag — und doch nur die halbe Wahrheit

Das war nur ein Tag. Ein vergleichsweise guter Tag.

Jede ME/CFS-Erkrankung verläuft individuell. Doch was uns verbindet, ist dieses Leben in der ständigen Abwägung, dosiert in Milligramm Aktivität, unter der ständigen Bedrohung der nächsten Erschöpfungswelle.

Für Gesunde sind die einfachsten Tätigkeiten selbstverständlich. Für mich sind sie Kraftakte mit ungewissem Ausgang.

Es geht nicht um Faulheit. Es geht nicht um fehlenden Willen. Es geht um einen Körper, der sich weigert, Energie bereitzustellen. Und um einen Geist, der trotzdem kämpft, jeden Tag neu.

Wenn ihr also das nächste Mal hört, jemand sei "nur müde", "erschöpft", "könne sich doch zusammenreißen":
Vielleicht lebt dieser Mensch gerade einen Tag wie meinen.
Und das ist mehr Mut und Kraft, als viele je begreifen.

(Hinweis: Der Text basiert auf meinem realen Tagesablauf den ich meinem Arzt aufgeschrieben hatte, damit er sich meine Situation vorstellen konnte.)