Differenzialdiagnostik ME/CFS und Depression: Warum die Abgrenzung so entscheidend ist
Die Abgrenzung von Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) gegenüber Depressionen ist eine der zentralen Herausforderungen in der medizinischen Praxis, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Ihre Symptome werden oft missverstanden, und das kann gravierende Folgen haben.
ME/CFS ≠ Depression
In der Praxis besteht häufig die Versuchung, massive Erschöpfung, Antriebslosigkeit und sozialen Rückzug als Ausdruck einer depressiven Erkrankung zu interpretieren. Doch ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung, deren Leitsymptom die Belastungsintoleranz (Post-Exertional Malaise, PEM) ist.
Dieses Symptom ist pathognomisch, also so typisch, dass es die Erkrankung eindeutig von anderen unterscheidet. Während Aktivierung bei Depressionen oft zur Besserung führt, kann sie bei ME/CFS eine massive Verschlechterung auslösen.
Psychische Folgeerscheinungen
Viele Betroffene, gerade Kinder und Jugendliche, entwickeln depressive Symptome und Ängste, allerdings als Folge der Erkrankung, nicht als primäres Symptom. Isolation, der Verlust von Alltagsaktivitäten, Schmerzen und Hilflosigkeit führen zu psychischen Belastungen.
Hinzu kommt das sogenannte medizinische Gaslighting: das wiederholte Infragestellen der eigenen Krankheitserfahrung durch Fachpersonen. Prof. Dr. Schomerus beschreibt ME/CFS als die weltweit am stärksten stigmatisierte Erkrankung, mit schweren Konsequenzen für die psychische Gesundheit.
Antrieb vs. Fehldeutung
Ein weit verbreiteter Irrtum: Menschen mit ME/CFS seien antriebslos. In Wahrheit haben sie einen starken inneren Drang, aktiv am Leben teilzunehmen. Rückzug ist nicht fehlende Motivation, sondern eine überlebensnotwendige Strategie, um Rückfälle zu vermeiden. Psychologische Fachpersonen interpretieren dieses Verhalten jedoch häufig fälschlich als Sozialphobie oder Vermeidungsverhalten.
Besondere Brisanz bei psychotherapeutischen Ansätzen
In meinem Modul zu Long Covid und ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen an der Fachhochschule Nordwestschweiz habe ich aufgezeigt: Viele klassische psychotherapeutische Ansätze, aktivierend, konfrontativ, aufdeckend, überfordern Betroffene strukturell. Schon die Auseinandersetzung mit emotionalen Themen kann den Zustand innerhalb von Minuten dramatisch verschlechtern.
Versorgungsrisiken
Die praktische Versorgung stellt weitere Herausforderungen:
Gefahr iatrogener Schäden
Eine Fehldiagnose als Depression kann nicht nur zu inadäquater Behandlung führen, sondern auch iatrogene Schäden verursachen. Das heißt: Therapieansätze, die helfen sollen, verschlimmern den Zustand massiv.
Was Fachpersonen wissen müssen
Fazit
Eine sorgfältige Differenzialdiagnostik schützt Betroffene vor Fehlbehandlung und zusätzlichen Schäden. Sie öffnet den Weg zu einer wirklich hilfreichen Begleitung, die den Menschen in seiner ganzen Realität sieht. Es geht nicht darum, Depressionen zu negieren, sondern ME/CFS klar zu erkennen, sekundäre psychische Belastungen im richtigen Kontext zu behandeln und iatrogene Risiken zu vermeiden.